Das Kaiserschnittkind in der Schule

Jedes dritte Kind wird in der Schweiz mit Kaiserschnitt entbunden. So ist es naheliegend, dass wir diese Kinder auch in der Schule finden. Sie kommen mit ihren ganz frühen Erfahrungen in ein Umfeld, das vermutlich wenig davon weiss und darauf nicht unbedingt Rücksicht nimmt. Man weiss noch viel zu wenig über diese Kinder und ihr Verhalten in der Schule, und noch viel weniger darüber, was letztlich die auslösenden Momente eines bestimmten Verhaltens sind.

Wir müssen jedoch bedenken, dass viele Kinder das Klassenzimmer symbolisch als Gebärmutter wahrnehmen. Daher können sich Erinnerungen an ganz frühe Erfahrungen einstellen und sich in einer Weise zeigen, die für Lehrperson und Eltern verständlicherweise zunächst nicht erklärbar sind. Wenn wir davon ausgehen, dass die Kaiserschnitterfahrung bereits eine Wiederholung noch früherer Erfahrungen ist, müssen wir den Fächer möglichst weit öffnen, damit wir die Verbindungen entdecken können. Ich möchte auf ein paar Aspekte des Verhaltens im Zusammenhang mit der Kaiserschnitterfahrung eingehen und dabei festhalten, dass es sich dabei nicht um statistisch belegte Angaben geht. Es sind oft sehr präzise verbale und nonverbale Hinweise von Kindern, denen ich mit grosser Achtung begegne. Ich hoffe, dass damit das Verständnis für das Verhalten dieser Kinder wachsen kann und daraus notwendige Schritte abgeleitet werden, die letztlich den Kindern und ihrem Umfeld zugute kommen.

 Egal um welche Art des Kaiserschnittes es sich handelt. Es geht fast immer um:

  •  die Periduralanästhesie (PDA)
  • das Öffnen des Uterus
  • das Herausheben des Kindes
  • das Durchtrennen der Nabelschnur
  • die medizinische Versorgung und Stabilisierung von Mutter und Kind

 Zu den  psychodynamischen Faktoren zähle ich:

  • das sehr hohe Tempo und das Übergehen von wichtigen Verarbeitungsschritten
  • das Überschreiten von Grenzen und die damit verbundene Verletzung des persönlichen Raumes
  • die ambivalenten Gefühle von Bedrohung und Rettung
  • das Gefühl, dass etwas nicht abgeschlossen ist  
  • die grundsätzliche Traumatisierung von Kind und Familie

Während beim geplanten Kaiserschnitt der fehlende Impuls des Kindes für die Geburt im Mittelpunkt der Erfahrungen stehen dürfte, sehe ich beim sekundären Kaiserschnitt die Notsituation und die damit verbundene Hektik und Ungewissheit im Feld als zentral.

Beim  geplanten Kaiserschnitt wird das Kind vor Ende der regulären Schwangerschaft geholt. Der eigene Impuls, sich auf den Weg zu machen, ist noch nicht vorhanden. Das Kind kann verunsichert werden, weil es plötzlich nicht mehr weiss, wann überhaupt der richtige Zeitpunkt ist. Es ist ein Phänomen, wie wir es zum Teil auch bei Frühgeborenen kennen. In der Schule kann es sich so zeigen, dass das Kind unerwartet nicht mehr zur Schule gehen will. Es möchte von innen heraus sagen können, wann es dazu bereit ist. Anderweitige Ursachen wie z.B. schwierige Beziehung zu den Mitschülern oder Lehrperson sind kein Auslöser. Grundsätzlich wollen Kinder gerne mit anderen zusammen sein. Das gilt auch für den Kindergarten- und Schulbesuch. Das Kind sollte jede mögliche Unterstützung erhalten, die darauf ausgerichtet ist, seinen eigenen Impuls wieder zu finden. Das Kind müsste zuhause mit den erforderlichen schulischen Aufgaben versorgt werden und die Lehrperson in regelmässigem, gutem Kontakt mit ihm stehen. Auf ein terminliches Ziel wie auch auf jeglichen Druck sollte verzichtet werden. Gleichzeitig kann die traumatische Erfahrung in der therapeutischen Begleitung von Eltern und Kind aufgearbeitet werden. Das Kind lernt zwischen der Erfahrung von damals und der heutigen Situation zu differenzieren. Wenn Schule und Elternhaus gut zusammenarbeiten und Unterstützung von aussen erhalten, findet das Kind wieder in die Schule zurück und spätere Rückfälle bleiben aus.

Ein weiteres Thema könnten die Grenzen sein, mit welchen sich das Kind auseinandersetzen muss. Indem es keine Wehen erlebt hat, kann es mit Grenzen Mühe bekommen. Es kann Grenzen als gegen sich gerichtet erleben. Wehen vermitteln Sicherheit und Verbindlichkeit. Dem Kind fehlt die körperliche Erfahrung von Sicherheit und Gehalten sein. Mit viel Einfühlungsvermögen kann das Kind spüren, dass Grenzen wohlwollend und schützend sind. Dadurch dass Kinder keine Grenzen erfahren haben, haben sie auch Schwierigkeiten, die Grenzen anderer zu respektieren, oder sie zwingen anderen ihre Grenzen auf.

Im Spiel, aber auch bei anderen schulischen Betätigungen, kann es sich zeigen, dass das Kind das Ende nicht findet. Es scheint, als ob es nicht abschliessen kann. Ein Teil reiht sich an den anderen, ohne dass die Gestalt rund wird und der Betrachter von aussen den Eindruck bekommt, dass ein Ende gefunden wurde. Indem das Angebot, z.B. die Auswahl von Spielen, eingeschränkt wird, hat das Kind eher die Möglichkeit, eine bewusste Entscheidung zu treffen und diese auch zu Ende zu führen. Das Kind hat oft „1000“ Ideen und kann doch keine richtig umsetzen. Sich in einen Lösungsprozess zu vertiefen fällt ihm sehr schwer. Es hat die Erfahrung des Weges durch den Geburtskanal nicht machen können. Damit fehlt eine wichtige körperliche Erfahrung, es trotz aller Mühen selbst zu schaffen. 

Kinder, die für die Geburt noch nicht bereit sind, können den Eingriff als Einbruch in ihren Raum erleben. Dabei werden Grenzen verletzt, selbst wenn die Intervention Leben rettet. Diese Ambivalenz führt bei den betroffenen Kindern oft zu Unentschlossenheit, Misstrauen und Ablehnung der Zuwendung. Wenn ihre Haltung gesehen und anerkannt und nicht als Verweigerung des Kontaktes verstanden wird, können die Kinder eine neue Erfahrung machen, wie sie unterstützt und begleitet werden.

Beim sekundären Kaiserschnitt, dem Notkaiserschnitt im Speziellen, geht es in erster Linie darum, das Leben von Mutter und Kind zu retten, weil eine natürliche Entbindung nicht mehr möglich ist. Währen das Kind sich auf dem Weg befindet, wird der Prozess aus irgendeinem Grund plötzlich abgebrochen und durch eine künstliche Intervention ersetzt. Die Wut des Kindes ist durchaus verständlich, weil es nicht zeigen kann, es selbst zu schaffen. Das Kind kann ja die aktuelle Bedrohung für sich und die Mutter nicht abschätzen. So kann es auch später in der Schule mit explosiven Reaktionen aufwarten, wenn es im Handlungsablauf gestört wird. Auch kann es durch Stress oder Unruhe im Klassenzimmer an die hektische Zeit während der Kaiserschnittentbindung erinnert werden und deshalb die Orientierung verlieren. Es  bricht auch im Spiel plötzlich ab, wenn es verliert oder wenn es schwierig wird. Es ist, wie wenn der Faden gerissen ist. In diesem Moment kann es sehr unterstützend sein, bei einer Aufgabe ein paar Schritte zurückzugehen zu einer Stelle, an welcher das Kind sich noch sicher gefühlt hat. Nun nähern wir uns von dieser Erfahrung aus dem schwierigeren Teil. So kann das Kind die Erfahrung machen, dass es den Weg erfolgreich gehen kann mit einer Begleitung, die es bei den einzelnen Schritten unterstützt und ihm Mut macht. 

Es gibt auch Kinder, die in einem „Ich kann es nicht“-Glauben gefangen sind. Bei kleinen Hindernissen geben sie auf und ziehen sich in die Passivität zurück. Es gibt Kinder, die eine Fertigkeit entwickelt haben, wie sie andere für sich einspannen können, die ihnen aus der Not helfen.

Andererseits gibt es auch Kinder, die sich durch alles hindurch behaupten und sich nicht helfen lassen, selbst wenn sie sehen, dass etwas nicht geht. Oft wechseln sie einfach das Thema oder lenken elegant ab oder sie reissen die Führung an sich. Dadurch glauben sie verhindern zu können, dass sie überfahren werden, wie dies beim Kaiserschnitt geschehen ist. In diesen Zusammenhang können wir auch die Prüfungsangst stellen. Die Kinder haben, wie es einmal ein Junge ausgedrückt hat, Angst vor den Fragen, die sie nicht vorbereiten können. 

Die Erfahrung, dass durch die schnelle Entbindung beim Kaiserschnitt wichtige Schritte der Integration ausgelassen werden, kann sich auch beim Problemlösen in der Schule wieder zeigen. Das Kind kennt womöglich das Ziel schon, die Schritte dazu aber können eine echte Herausforderung sein. Mit der Erfahrung der schnellen Entbindung kann auch die Schwierigkeit zusammenhängen, etwas langsam auszuführen. Dahinter steckt oft die Angst, dass es gefährlich wird, wenn es langsam geht, analog der Lebensbedrohung bei der Geburt. Andererseits können solche Kinder gedanklich auch sehr schnell und weit vorausdenkend sein.

Das Bilderbuch der Verhaltensweisen eines Kaiserschnittkindes in der Schule ist sehr vielseitig und abwechslungsreich, so sehr, dass die Kinder nicht über den gleichen Leisten geschlagen werden dürfen. Damit würde man ihnen in keiner Weise gerecht. Es gibt Kaiserschnittkinder, auf die die obigen Beschreibungen überhaupt nicht zutreffen. Dass Kinder einen so massiven Eingriff gut überstehen, mag sehr wohl damit zu tun haben, wie gut das Bonding unmittelbar nach der Geburt und in den ersten Monaten danach gelingt. Das wiederum ist dann besonders erfolgreich, wenn sich die Mutter und die ganze Familie gute Unterstützung holt, weil die Traumatisierung auch das familiäre Umfeld betrifft.  

Was brauchen Kinder?

Die beste Basis, die wir einem Kaiserschnittkind bieten können, ist eine wohlwollende Zusammenarbeit zwischen Schule und Elternhaus. In diesem Feld kann das Kind Erfahrungen machen, die sein weiteres Leben in andere Bahnen lenken:

  • Raum geben, damit der Impuls sich zeigen kann
  • Ruhe aufbauen und langsam werden
  • In Verbindung bleiben und Druck vermeiden
  • Gute und klare Grenzen vermitteln Sicherheit
  • Das Nein respektieren und Wege aus der Verunsicherung finden
  • Handlungen zu Ende führen und positiv verstärken
  • Überreizung durch zu viele Dinge vermeiden

 

Autor: Klaus Käppeli-Valaulta, lic.phil. I, Fachpsychologe für Psychotherapie FSP

Praxis für somatische Psychotherapie, Integration prä- und perinataler Erfahrungen

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